Eva von Schirach

Sprache in Wort und Bild

WARTEN AUF DEM FLUR

Studentische Feldforschungen in medizinischen Gesundheitseinrichtungen

Über den Zusammenhang zwischen der Qualität ärztlichen Denken und Handelns und der ärztlichen Fähigkeit, qualitativ-empirische Methoden kompetent anzuwenden.

Direkt zu Gedanken und Tipps für die Feldforschung 

Warum:

Keine Praxis ohne Wartezimmer. Kein Krankenhaus ohne Wartebereich. Kein Alltag in Gesundheitseinrichtungen ohne wartende Patient*innen.

Keine Behandlung ohne Warten. Keine Heilung ohne Warten.

Wer in medizinischen Berufen arbeitet/ arbeiten möchte, sollte sich mit dem Thema WARTEN auseinandersetzen.

Wo:

Wer Patient*in wird, gibt Kompetenz ab und begibt sich in die Hände von Expert*innen.

Üblicherweise findet die medizinische Behandlung hinter verschlossenen Türen stand.

Das Wartezimmer als individuell erlebter, stiller, nicht-öffentlich/öffentlicher Durchgangsort liegt sichtbar davor: Ein Raum voller Bedeutung.

Wie:

Wir üben uns im teilnehmenden Beobachten.

Wir erkunden unseren ethnologischen Blick. Wir forschen. Wir gehen ins Feld. Wir nehmen wahr, beobachten, schreiben auf, tauschen uns über unsere Forschungserfahrungen aus, reflektieren über unsere Wahrnehmungskonzepte, informieren uns, bleiben offen und neugierig, kehren ins Feld zurück und verfeinern unsere Wahrnehmung.

Feldforschung?

EVERY MOMENT IS RESEARCH (in Anlehnung an John Cage: EVERY MOMENT IS MUSIC)

Dank an Dr. Martin Timmermann

 

Um was es geht:

Wirklichkeit, Wahrnehmung und Sprache

 

Unser Forschungsfeld ist der WARTEBEREICH im ärztlichen Kontext. Hier warten die Patient*innen. Sie sind diejenigen, die das Warten als Praxis ausüben. Wir als Forschende nehmen zwar Teil an ihrem Warten, sind aber selbst keine Wartenden. Wir sind Beobachtende, die sich darin üben, die eigene Wahrnehmung zu schärfen. Wir gehen qualitativ-empirisch vor, weil wir nicht thesen-prüfend arbeiten und unsere Methoden den Gegebenheiten vor Ort anpassen (und nicht andersherum). Wir gehen ins Feld, finden in der Empirie eine Forschungsfrage, lassen zu, dass diese sich verändert. Wir bemühen uns, vorbehaltlos, neugierig und offen unser Forschungsfeld zu erleben und zu beschreiben. Wir versuchen nicht zu interpretieren. Was uns vor Augen kommt, fassen wir in Worte. Somit gelingt uns ein akademischer Austausch über unsere Beobachtungen.

 

Das Ergebnis ist keine Theorie über das Warten, sondern eine genaue und spezifische Wiedergabe dessen, was zu dieser Zeit, an diesem Ort und auf diese Weise von mir als forschende  Person zu beobachten war. Dabei wird sich herausstellen, dass meine Beobachtung nicht beliebig ist. Ich habe Konzepte im Kopf, die mich mal mehr und mal weniger gut leiten. Ich erfahre etwas über die Struktur meiner Wahrnehmung und kann kritisch darüber reflektieren. Die Qualität meiner Wahrnehmung lässt sich – durch mein eigenes Arbeiten an dieser Wahrnehmung – verbessern. Ich werde genauer. Es stellt sich heraus, dass das von mir beobachtete WARTEN ebenso wenig beliebig ist wie meine Wahrnehmung.

 

Das WARTEN hat einen Anfang und ein Ende. Menschen, die warten agieren regelhaft, sie verfolgen Strategien. Das WARTEN im ärztlichen Kontext ist eine besondere Form der vielen Varianten von WARTEN (auf den Bus, auf den Studienplatz, auf das Einkehren der inneren Ruhe, auf das Zuschnappen einer selbst gebastelten Falle).

 

Die von uns untersuchte Variante von WARTEN hat immer ein Gegenüber: Das Wartenlassen. Der Wartende hat ein Anliegen. Deswegen ist er hierhergekommen. Sein Warten hat einen Grund und ein Ziel. Der Wartende kann nicht sagen: Ich lasse (mich) warten. Sein Warten erfordert die eigene physische wie psychische Präsenz. Der Wartende wartet aktiv und hat gleichzeitig wenig gestalterischen Einfluss auf das System WARTEN. Diese Invarianz, die vor allem auf die besondere Wartesituation WARTEN IM ÄRZTLICHEN KONTEXT zutrifft, wird immer dann deutlich, wenn diese verordnete Passivität in Frage gestellt wird („Aber ich bin doch jetzt dran“). Das Warten ist eine Nebenhandlung. Die Haupthandlung ist der Termin beim Arzt/Ärztin. Das gelungene Warten ist nicht das Ziel. Anfang und Ende des Wartens liegen nicht in der Hand des Wartenden. Warten macht verletzlich. Warten und Verletzlichkeit gehören zusammen.

 

Das alltägliche Phänomen WARTEN ist komplex und lehrreich. Hier lässt sich gut die eigene Kompetenz im Umgang mit Wirklichkeit trainieren. Wie bringe ich das, was ich sehe, so zur Sprache, dass ich mich mit anderen (sinnvoll) darüber austauschen kann?

Wissenschaft braucht bewegliche Köpfe. Dreh dich und sieh dich um.

29.5.24

Feldforschungsfragen

Diese Fragen dienen nur zur Orientierung.

Lass dich treiben, klicke auf ein Bild und finde heraus, wie die Frage für dich von Bedeutung wird.

Wo bin ich?

Woher weiß ich, dass ich mich hier auskenne?

Was ist meine Frage? Habe ich eine Frage? Fehlt mir eine Frage?

Wann bin ich mit meiner Forschung am Ende?

Wie geht es mir im Feld?

Was bleibt mir verborgen?

Warum mache ich das?

Woran merke ich, wie gut meine Wahrnehmung funktioniert?

Wer bin ich?

Was fällt mir auf?

Mache ich Fehler?

Was trennt mich von meinem Forschungsfeld?

Mit wem spreche ich?

Was höre ich, wenn ich die Augen schließe?

Woran merke ich, wie mein Forschungsfeld mir begegnet?

Welches Vorwissen setze ich durch mein Forschen aufs Spiel?

Wie beschreibe ich mein Feld?

Was entdecke ich?

Warum kenne ich mich in meinem Forschungsfeld aus?

Wo hört mein Feld auf?

Wie beobachte ich Warten?

Was verstehe ich?

Was verändert sich durch meine Beschäftigung mit meinem Thema?

Was fehlt (mir)?

Was meint Heuristik der Befremdung?

Liebe ich mein Feld?

Was nehme ich heute anders wahr als neulich?

Wer hilft mir im Feld? Was hilft mir im Feld?

Literaturhinweise & Anregungen

BzgA-Leitbegriffe: Definition von Gesundheit.

Bub, Eva-Maria (2014):
Wenn Emotionen zum Warten zwingen.

Fuchs, Thomas (2015):

Körper-haben oder Leib-sein.

Gadamer, Hans-Georg (1993):
Über die Verborgenheit der Gesundheit, Suhrkamp, Frankfurt am Main. Kurzer Artikel zu ihm

Girtler, Roland (2004):

10 Gebote der Feldforschung.

Girtler, Roland (2001):
Methoden der Feldforschung, 4. Aufl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.
Holmberg, Christine (2005):
Diagnose Brustkrebs. Eine ethnografische Studie über Krankheit und Krankheitserleben. Frankfurt am Main.

Schürmann, Volker (2023):

Vorlesung zu Körper/Leib.

Strauss, Anselm (2004):
Research is Hard Work, it’s Always a bit Suffering. Therefore, on the Other Side Research Should be Fun. Im Interview mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie. FQS.
Strübing, Jörg (2018):
Qualitative Sozialforschung. Eine komprimierte Einführung. De Gruyter. Oldenburg.

Webseite der Uni Freiburg mit kurzen Texten zu Methoden.

Tipps

Kultur – Alltag – Lebenswelt

In unserer Forschung erlauben wir uns alle drei Begriffe synonym zu verwenden.

Interessiere dich dafür, wie die Menschen in deinem Forschungsfeld durch ihr Handeln (aktiv wie passiv) das herstellen, was du untersuchen möchtest. Alle sind Akteure. Wie und womit tragen alle zu dieser gelebten Wirklichkeit bei? Erfasse die Komplexität dieser Wirklichkeit und halte dich mit Vorschlägen zurück, wie „das Warten“ zu verbessern ist.

Die teilnehmende Beobachtung – Der ethnologische Blick

Tarne dich nicht als Patient*in, interessiere dich für die Perspektive der wartenden Patient*innen (sowie für andere in diesem Raum interagierende Personen, wie z.B. Klinikpersonal). Nimm wahr und dokumentiere umfassend. Nur so können wir das Material gemeinsam besprechen und auswerten. Sei empathisch und verhalte dich so, wie es sich für dich stimmig anfühlt. (Ich setze voraus, dass wir alle uns respektvoll verhalten). Nutze Möglichkeiten zur Interaktion. Du bist Teil deines Forschungsfeldes!

Fragestellung – Methode

Erkunde dein Forschungsinteresse. Bemühe dich einfach nur zu beobachten und wahrzunehmen, halte Ideen fest, versuche noch nicht zu interpretieren. Finde heraus, wie Fragestellung und Methode zusammenhängen, wie komplex deine Fragestellung sein soll oder sein darf. Stelle offene Fragen. Probiere unterschiedliche Methoden aus: Fertige Skizzen an, Zeichnungen, Interviews, Protokolle, Notizen, Tagebucheinträge.

Erinnere dich daran, dass DU etwas erforschst. Diese Aufgabe stellst du dir selbst (auch wenn es ein Uni-Seminar ist).

Seminarziel

Habe im Kopf, dass deine Forschung, das Ergebnis unseres gemeinsamen Arbeitens, sichtbar werden soll für die Beforschten. Vielleicht mittels eines Plakats?

Was tun, wenn nichts passiert

Nutze die Methode der Heuristik der Befremdung. Stell dir vor, du dürftest einer außerirdischen Intelligenz „Die Kultur des Wartens in medizinischen Einrichtungen“ erklären. Stelle Vergleiche zu anderen Wartesituationen an (U-Bahn, auf dem Amt, Telefonschleife, Liebesbrief). Erforsche dich selbst. Ändere deine Fragestellung und deine Methode und finde heraus, wie sich deine Sicht auf dein Forschungsfeld verändert.

Alle Planeten bitte hierlang

 

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